- Lilienthal: Der Mensch hebt ab
- Lilienthal: Der Mensch hebt abEiner der ältesten Träume der Menschheit wurde erst im 20. Jahrhundert verwirklicht. In Mythologien und in der Literatur, in Religionen und Kunstwerken konnten Menschen schon immer fliegen. Doch die erste Realisierung des Fliegens gelang durch Geräte »leichter als Luft«: Mit einem Heißluftballon, gebaut von den Brüdern Montgolfier, erhoben sich 1783 erstmals Menschen über die Erde. Diese Ballone und die wasserstoffgefüllten »Charlieren« hatten allerdings den großen Nachteil, unkontrolliert im Luftmeer zu treiben; nur eingeschränkte vertikale Kontrolle war möglich. Die lange Geschichte der Realisierungsversuche des Traums vom Fliegen trat jedoch Ende des 19. Jahrhunderts in eine konkretere Phase. Techniker und Industrielle stiegen in den Bau von Flugmaschinen ein, mit Experimenten versuchte man das Wesen des Auftriebs zu verstehen.Am erfolgreichsten war ein deutscher Flugpionier, Otto Lilienthal. Er ging das Flugproblem wissenschaftlich an und führte systematische Untersuchungen über das Wesen des Auftriebs durch, indem er die Flugtechnik von Vögeln betrachtete. Lilienthal erprobte ab 1891 erfolgreich seine leichten, motorlosen Gleitflieger auf einem eigens aufgeschütteten »Fliegeberg« bei Berlin. Seine Fluggeräte waren schon so ausgereift, dass er von seinem »Normal-Segelapparat« einige Exemplare verkaufen konnte. Einige der um 1900 arbeitenden Flugpioniere, wie etwa Pilcher in Großbritannien oder Chanute in den USA, bauten auf seinen Forschungen auf. Auch wenn das Phänomen des Auftriebs nun schon verstanden wurde, blieb doch das wichtigste Problem der frühen Fliegerei lange ungelöst: die Steuerbarkeit des Apparats um alle drei Achsen. Dass Höhen- und Seitensteuer nötig waren, erkannten fast alle Erfinder, doch erst die Brüder Wright führten eine funktionierende Querrudersteuerung ein. Sie bauten eine Verwindungsmöglichkeit der Tragflächen, sodass sie die Maschine wieder auf Kurs bringen konnten, wenn sie durch Böen ihre Stabilität verloren hatte. Lilienthal hatte dies durch die Verlagerung seines Körpergewichts erzielen wollen; diese wenig wirksame Methode hatte wahrscheinlich seinen Tod verschuldet.Der große Tag: 12 Sekunden MotorflugDie Brüder Orville und Wilbur Wright waren schon früh fasziniert von allem Mechanischen. Sie bauten und verkauften Druckmaschinen ebenso wie Fahrräder, bevor sie mit dem »Drachenflug« experimentierten. Ab 1900 erprobten sie Flugmaschinen auf einer vor dem amerikanischen North Carolina gelagerten Sandinselkette. Die beiden Brüder waren keine Dilettanten: Sie kannten die Fachliteratur genau, kannten auch die Flugversuche Otto Lilienthals in Deutschland und die ihrer amerikanischen Konkurrenten wie die Gustav Weißkopfs, der 1901/02 vermutlich erfolgreich, aber folgenlos flog. Dabei war ihr Aufwand recht gering - was nicht heißt, dass ihr Flugapparat primitiv war: Sie hatten sogar Windkanalversuche vorgenommen. Die Luftschrauben mussten von ihnen ebenso entworfen und gebaut werden wie der Motor. Dieser war 12 Pferdekräfte stark und nur 65 Kilogramm schwer, ein für damalige Verhältnisse sensationeller Leichtbau. Die Wrights begannen ihre Flugversuche in einem glücklichen Moment, in dem der technische Fortschritt »reif« dafür war: Erst um die Jahrhundertwende waren Leichtbau und die Technologie moderner Verbrennungsmotoren verfügbar.Dann kam der große Tag: Am 17. Dezember 1903 hob der »Flyer«, ein Doppeldecker mit vorn liegendem Höhensteuer, Orville Wright für 12 Sekunden in die Luft. Dass der motorisierte Flug tatsächlich gelungen war, glaubte die Weltöffentlichkeit anfangs nicht, obwohl er fotografiert worden war. Für die Presse waren die Wrights nicht die flying (fliegenden), sondern die lying (lügenden) Brüder. Erst die Vorführung eines weiterentwickelten »Flyers« in Europa im Jahr 1908 geriet zum Triumph und löste eine Welle der Flugbegeisterung aus: Viele europäische Flugpioniere fühlten sich nun bestätigt und in ihren Bemühungen bestärkt. Insbesondere die erfolgreiche Überquerung des Ärmelkanals durch Louis Blériot 1909 zeigte der Welt die Leistung der Flugmaschinen und erzeugte in Europa einen unvorstellbaren Enthusiasmus. Danach wurden monatlich Höhen-, Weiten- und Geschwindigkeitsrekorde gebrochen; in Überlandflügen, Rekordjagden und Luftrennen steigerte man die Leistungen der Flugmaschinen. Waren anfangs noch Flüge von einigen Minuten sensationell, so flog Maurice Farman in knapp vier Stunden schon 180 km weit.Doch natürlich forderte die frühe Luftfahrt Opfer. Viele Maschinen waren instabil, schwer zu beherrschen, zu leicht gebaut und hatten unzuverlässige Motoren. Zudem besaßen manche Flugpioniere nur unzulängliche Kenntnisse der Aerodynamik. Nicht nur solide Konstrukteure widmeten sich der Verbesserung der Aeroplane und ihrer Antriebsmotoren, auch viele Abenteurer und technikbegeisterte Dilettanten lernten fliegen. Technisch waren viele Fluggeräte experimentell: Bambus und Holzleisten, Leinen zur Tragflächenbespannung und Stahldrähte mussten leichte, stabile Tragwerke bilden, ein Ziel, das keineswegs immer erreicht wurde. Weiterentwickelte Konstruktionen verwendeten formverleimtes Sperrholz oder Stahlrohre, ab 1915 auch Vollmetall. Der Dichter Karl Vollmoeller besang 1910 das Flugzeug: »... spreitet ein neues Fabeltier die Schwingen / Von leichtem Linnen, dünnem Holz und Rohr!« Wie Vollmoeller waren viele Künstler vom Flugzeug fasziniert. Es galt als Beispiel für ein neues »kentaurisches Verhältnis«, eine Einheit von Mensch und Technik.Doch die treibende Kraft hinter den Verbesserungen der Aeroplane waren weder Künstler noch Sportler oder Techniker, sondern vor allem die Militärs. In den europäischen Staaten interessierten sich alle Armeen für den neuen Blick von oben, dem feindliche Truppenansammlungen und Marschbewegungen nicht verborgen bleiben konnten: Das Flugzeug sollte als »fliegendes Auge« fungieren. Das Militär baute schon bald auf die Aufklärung aus der Luft, finanzierte zuverlässige Maschinen und prämierte leistungsfähige Flugmotoren nationaler Hersteller. Ursprünglich hatten die Militärs auf eine andere Flugtechnologie gesetzt, auf die Luftschiffe des Grafen Zeppelin. Dessen »deutsches« Luftschiff wurde gerne gegen den »welschen« Aeroplan ausgespielt. Doch die brandgefährdeten Luftschiffe waren zur Kriegführung wenig geeignet.Schon bald wurde aus den fliegenden Augen des Heeres eine Waffe. Ab 1917 führten mehrmotorige deutsche Bomber bereits einen Krieg gegen die britische Zivilbevölkerung, während »Schlachtflugzeuge« in die Grabenkämpfe der Westfront eingriffen. Die Jagdpiloten des Ersten Weltkriegs, die neuen Helden des »technoromantischen Abenteuers«, kämpften und starben in ihren hoch entwickelten Maschinen in vermeintlich ritterlichen Turnieren der Lüfte, während unter ihnen der anonyme Massentod der Materialschlacht herrschte.Unmittelbar nach Kriegsende begann die zivile Luftfahrt. Sie baute auf den technischen Fortschritten der Kriegszeit auf. Geschlossene Ganzmetallflugzeuge mit Motoren für große Höhen, bald auch zuverlässigere Eindeckermaschinen flogen für die zahlreichen neu gegründeten Luftfahrtgesellschaften. Ehemalige Kriegsflieger pilotierten nicht nur Passagier- und Postflugzeuge, sondern sorgten mit »Luftzirkus«-Vorführungen für weitere Popularität der Fliegerei. Charles Lindbergh bezwang 1927 allein den Nordatlantik, während deutsche »Wal«-Flugboote die Südamerikaroute erschlossen.Doch während die neuen Helden der weltumspannenden Flüge gefeiert wurden, rüsteten die Militärs schon für einen neuen Krieg, der diesmal das Potenzial der Bedrohung aus der Luft voll realisieren sollte. Die Bomberflotte des nationalsozialistischen Deutschland führte Krieg gegen die Zivilbevölkerung von Guernica, Rotterdam und London, bevor die alliierten Geschwader die deutschen Großstädte in Trümmer legten. Die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki warf der damals modernste Boeing-Bomber ab. Bei Orville Wrights Tod im Jahr 1948 war seine Erfindung nicht nur wahrhaft weltumspannend geworden, sondern hatte letztlich auch den verheerendsten Krieg der Geschichte entschieden.Dr. Kurt Möser
Universal-Lexikon. 2012.